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Interview mit Dr. Roya Schwarz und Dr. Michael Hammes, Autoren des Lehrbuch der klassischen chinesischen Medizin und Akupunktur, erschienen im Elsevier Verlag (ISBN 9783437568213)

Roya Schwarz | Michael Hammes Lehrbuch der klassischen chinesischen Medizin und Akupunktur Die Goldene Nadel

Naturmed: Frau Dr. Schwarz, Herr Dr. Hammes, gerade ist Ihr neues Buch, Lehrbuch der klassischen chinesischen Medizin und Akupunktur, erschienen.

Was ist für Sie das Faszinierende an der klassischen chinesischen Medizin?

Dr. Schwarz/Dr. Hammes: Die klassische chinesische Medizin bietet einerseits einzigartige Erklärungsmodelle für funktionelle Prozesse und Störungen des menschlichen Organismus und für psychosomatische Zusammenhänge. Zum anderen gehören ausgefeilte Behandlungsmethoden im Sinne eines umfassenden naturheilkundlichen Ansatzes zum bewährten Repertoire der chinesischen Medizin. In der Therapie sticht die Akupunktur durch ihre universelle Anwendbarkeit und unvergleichliche Eigenständigkeit hervor. Die medizinischen Theoreme der chinesischen Medizin sind systematisch aufeinander bezogen und sinnhaft miteinander verzahnt.

Die chinesische Medizin eignet sich daher hervorragend für Problemstellungen bei funktionellen Störungen, sowie bei chronischen und psychosomatischen Erkrankungen, also häufig dort, wo die moderne Biomedizin an ihre Grenzen stößt. Die chinesische Medizin hat darüber hinaus auf eine einzigartige Weise ihre Validität über Jahrtausende unter Beweis gestellt und bietet in der Praxis eine hervorragende ergänzende Option zur etablierten Schulmedizin. Die gelungene Anwendung der chinesischen Medizin beruht allerdings nicht allein auf dem Einsatz besonderer Behandlungstechniken. Ihre Aneignung und Nutzung im Sinne der klassischen Unterweisungen basiert vielmehr auf einer inneren Kultivierung des Therapeuten im Hinblick auf die Entwicklung außergewöhnlicher Fähigkeiten in der Diagnose und Behandlung. Erst mit diesen Voraussetzungen können die chinesische Medizin und Akupunktur äußerst gezielt eingesetzt werden und ihr volles Potential entfalten.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Schwierigkeiten junger TherapeutInnen beim Erlernen der klassischen chinesischen Medizin?

Dr. Schwarz/Dr. Hammes: Im Wesentlichen können zwei Umstände dem angemessenen Erlernen der chinesischen Medizin im Wege stehen. Zum einen neigen insbesondere Menschen mit einer naturwissenschaftlichen Ausbildung oder Vorkenntnissen in der modernen Biomedizin dazu, sowohl ihr Verständnis für neue medizinische Ansätze an die Biomedizin anzugleichen und mit diesen Ansätzen analog zur Biomedizin zu verfahren, als auch fremde medizinische Systeme mit dem der Biomedizin zugrundeliegenden Denken zu begründen und zu prüfen. Dies unterschlägt jedoch etwa im vorliegenden Fall die Eigenständigkeit der chinesischen Erklärungsmodelle und führt häufig dazu, dass nicht – wie ursprünglich in der chinesischen Medizin intendiert – Individuen in den Wurzeln ihres Krankseins behandelt werden.

Der zweite Stolperstein ist darin zu sehen, dass die Angebote der chinesischen Medizin als reine Behandlungstechniken von besonderem Charakter missverstanden werden. Sollten die therapeutischen Methoden der chinesischen als reine Technik auf dem Hintergrund der modernen Biomedizin benutzt werden, so büßen sie meist einen wesentlichen Teil ihrer Wirksamkeit ein.

Die Ausbildung in der originären chinesischen Medizin fußt auf der Anregung eines unentbehrlichen inneren Entwicklungsprozesses des Therapeuten, der erst dadurch die notwendigen Fähigkeiten ausbildet, die auch bei den Patienten eine Entwicklung heraus aus den negativen Spiralen der Erkrankung initiieren können. Mit diesem Ansatz lassen sich tiefgreifende und nachhaltige Veränderungen im Sinne einer wahren Gesundung bei den Patienten bewirken.

Die größte Schwierigkeit beim Erlernen der chinesischen Medizin könnte allerdings auch darin begründet liegen, dass man für das vollständige Verständnis aller Theoreme und Zusammenhänge viele Jahre des intensiven Studiums und der Praxis benötigt und daher dazu verleitet sein könnte, sich selektiv Techniken anzueignen, welche durchaus Heileffekte auslösen, sich jedoch nicht an den Kernprinzipien der Chinesischen Medizin orientieren. Eine intensive Auseinandersetzung mit den Theoremen der klassischen chinesischen Medizin wird auf diesem Weg umgangen und als unnötig erachtet, wodurch allerdings das volle Potenzial der chinesischen Medizin keinesfalls ausgeschöpft werden kann.

Es gibt ja bereits schon mehrere Lehrbücher der chinesischen Medizin. Worin sehen Sie die wichtigsten Unterschiede zu Ihrem Buch?

Dr. Schwarz/Dr. Hammes: Die meisten anderen Lehrbücher der chinesischen Medizin entbehren entweder weitgehend der Angabe von Quellen, oder beschränken sich auf die Verwendung von Sekundärliteratur. Aufgrund von häufig unzulänglichen Übersetzungen der primären Quellen der klassischen chinesischen Medizinliteratur wird die Darstellung der chinesischen Medizin in der Regel nicht anhand von klassischen Originaltexten entwickelt.

In dem vorliegenden Werk wurden alle Zitate aus klassischen Quellen in eine verständliche Sprache neu übersetzt. Zudem pflegen viele andere Autoren kaum Austausch mit authentisch praktizierenden Meistern der alten chinesischen Medizin. Es scheint auch keine verbreitete Praxis zu sein, in einem Lehrbuch der chinesischen Medizin einen roten Faden zu verfolgen, und die Darstellungen einem einheitlichen Duktus zu unterwerfen, der den Leser durch das Werk führt. Oft werden in anderen Werken die einzelnen Theoreme der chinesischen Medizin isoliert in separaten Blöcken vermittelt, so dass eine zerpflückte Darstellung miteinander nicht verbundener Einzeltheoreme entsteht, ohne dass eine umfassende Sicht des gesamten Beziehungsgeflechts entwickelt würde.

In dem von uns verfassten Lehrbuch werden ausdrücklich auch die vielfältigen Beziehungen und Verflechtungen der einzelnen Theoreme der klassischen chinesischen Medizin untereinander dargestellt. Es wurden durchgehend neue Abbildungen entwickelt, um die einzigartigen Perspektiven der chinesischen Medizin zu verdeutlichen.

Darüber hinaus wurden Portraits der alten Meister angefertigt, um dem Leser die Möglichkeit zu eröffnen, sich mit den Persönlichkeiten der Urväter der chinesischen Medizin vertraut zu machen. Zahlreiche Tabellen fassen die wesentlichen Aussagen der jeweiligen Kapitel zusammen, so dass die didaktischen Möglichkeiten eines Druckerzeugnisses ausgiebig genutzt werden.

Das Buch wurde an dem Konzept der Geist-Seele Shen ausgerichtet erstellt und zielt sowohl auf die Erweiterung des Bewusstseins für medizinische Phänomene in der Sichtweise der chinesischen Medizinklassiker, als auch auf die Entwicklung einzigartiger therapeutischer Fähigkeiten beim Leser ab.

Ein wesentlicher Unterschied könnte aber auch darin zu finden sein, dass wir uns in unseren persönlichen Biografien, in unserer Ausbildung und unserem Studium der Geistigkeit und Sprache, sowie auf der Basis einer langjährigen Erfahrung in Praxis und Lehre auf ideale Weise im Yin und im Yang ergänzen und daher den Duktus des Buches dem ureigenen Wesen der chinesischen Medizin entsprechend ausrichten konnten. Wir haben das Ziel verfolgt, alle Themen aus der Perspektive des Somatischen wie auch des Seelischen zu durchdringen und zu beleuchten. In diesem Buch drückt sich unsere gemeinsame Liebe für die ursprüngliche und unveränderte chinesische Medizin auf besonders innige Weise aus.

Die Klassiker der TCM sind vor vielen Hundert Jahren geschrieben worden und doch haben deren Inhalte auch in der modernen Zeit nach wie vor Bestand. Können Sie uns das an einem Beispiel für die Relevanz der klassischen chinesischen Medizinmodelle in der heutigen Zeit geben

Dr. Schwarz/Dr. Hammes: Die moderne Biomedizin ist in der Regel nicht wesentlich an der Entwicklung und Förderung von Selbstheilungskräften bei den Patienten interessiert. Sie orientiert sich häufig an Surrogatparametern und sucht nach einer externen Validierung durch technische Untersuchungen.

Die Wichtigkeit der Anamnese- und Befunderhebung wird in der Praxis der modernen Medizin zunehmend vernachlässigt. Sie interessiert sich kaum für subjektive Daten und beachtet in der Regel keine Informationen, die nur von Personen erhoben werden können, die besondere Fähigkeiten entwickelt haben. Bei funktionellen und psychosomatischen Störungen stehen jedoch in der Regel kaum objektivierbare Daten zur Verfügung.

Die moderne Medizin schenkt der Konstitution des Patienten und dem Wechselspiel zwischen dem inneren Zustand des Patienten und den krankheitsauslösenden Faktoren kaum Beachtung. Wenn also objektive Krankheitszeichen weitgehend fehlen und psychologische Faktoren eine bestimmende Rolle spielen, kommt die moderne Biomedizin meist an die Grenzen ihrer diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Zwar vermag die moderne Psychosomatik und Psychiatrie eigene Störungsmuster und die als Grundlage angenommenen psychodynamischen Mechanismen zu beschreiben. Jedoch kennt sie kaum spezifische Zusammenhänge zwischen persönlichen Charakteristika des Patienten und der Entwicklung nicht primär somatischer Störungen bzw. von Störungen, die nicht hauptsächlich von somatischen Faktoren bestimmt sind. Die moderne Medizin ermangelt der direkten und spezifischen Methoden zur Beeinflussung des emotionalen Erlebens und des Bewusstseins des Patienten.

In der klassischen chinesischen Medizin werden die Seelen- und Bewusstseinszustände des Patienten und der Zusammenhang mit körperlichen Krankheitserscheinungen detailliert und spezifisch beschrieben. Auf der Basis der Feststellung des Konstitutionstyps des Patienten und der Balance der lebensunterhaltenden Kräfte kann mit präzise darauf abgestimmten Maßnahmen unter geringem Aufwand und bei weitgehender Vermeidung gefährlicher unerwünschter Wirkungen ein reibungsärmerer und stabilisierender Ablauf der Prozesse des Lebendigen wiederhergestellt werden.

So kann etwa die Akupunktur höchst spezifisch und individuell auf die jeweils beim Patienten anzutreffende Konstellation zugeschnitten werden. Die ausgelösten Effekte verändern nachhaltig in gesundheitsfördernder Weise nicht nur die Steuerung der vegetativen Prozesse des Organismus, sondern auch das gesamte emotionale Erleben und die Wahrnehmung des Patienten. Pathologische Reaktions- und Verhaltensmuster werden so aufgelöst oder einer tiefergreifenden Auflösung mit Hilfe ergänzender Behandlungen zugänglich gemacht.

So vermag etwa die Akupunktur, in einem ersten Behandlungsschritt an psychosomatische Blockierungen orientiert, die individuellen Konfliktthematiken des Patienten aufzulösen. Im nächsten Schritt können die erkrankungsfördernden, spezifischen, konstitutionellen Defizite als Wurzel der Erkrankung des Patienten identifiziert und ausgeglichen werden. Dies ebnet den Weg dafür, traumatische und transgenerationale Prägungen in tiefen, größtenteils unbewussten Schichten der Person zu beseitigen.

Anhand der Theoreme der chinesischen Medizin können darüber hinaus dem Patienten die wesentlichen Aspekte und Prinzipien der Lebenspflege vermittelt werden. Der Patient kann angeleitet werden, die Basisbalance der Kräfte von Yin und Yang selbstständig aufrechtzuerhalten, um seine Anfälligkeit für Erkrankungen zu minimieren.

Über die Akupunktur und ihre Erklärungsmodelle wird der Patient dazu befähigt, die in ihm wirksamen krankmachenden Prozesse zu durchschauen, aufzulösen und dadurch eine höhere Stabilität zu erlangen. Die Theoreme der chinesischen Medizin können von den Patienten auch ohne akademisches Studium nachvollzogen und zur Wiederherstellung wie auch Erhaltung der Gesundheit genutzt werden. Die chinesischen Theoreme erläutern in unschwer nachvollziehbarer Weise die Zusammenhänge zwischen der Patientenbiographie und -konstitution und der aufgetretenen Gesundheitsstörung in ihrer körperlichen, geistigen und seelischen Dimension.

Dr. Schwarz und Dr. Hammes: „Die therapeutischen Ansätze der chinesischen Medizin wirken unmittelbar auf die zugrundeliegenden pathophysiologischen Mechanismen ein.“

Patienten, die sich für die innere Kultivierung öffnen können, werden im besten Fall befähigt, ihre Gesundheit und Glückseligkeit unabhängig von beeinträchtigenden inneren und äußeren Faktoren aktiv zu gestalten. Der moderne Mensch ist in der Regel mit seinen individuellen inneren psycho-emotionalen Prozessen wenig vertraut. Die chinesischen Erklärungsmodelle können von den Patienten leichter als reine psychologische Theorien nachvollzogen und somit praktisch genutzt werden.

Die therapeutischen Ansätze der chinesischen Medizin wirken unmittelbar auf die zugrundeliegenden pathophysiologischen Mechanismen ein. Diagnose und Therapie werden somit für den Therapeuten und ggf. auch den Patienten unmittelbar zugänglich. Die Akupunktur und weiteren chinesischen Behandlungsverfahren können mit allen modernen Therapien kombiniert werden und stellen bei korrekter Anwendung kein Risiko für wesentliche unerwünschte Wirkungen bei den Patienten dar. Chinesische Medizin und moderne Biomedizin können in gegenseitig synergistischer Weise genutzt werden. Letztlich bietet unsere heutige Biomedizin weder alle erforderlichen Voraussetzungen für die Diagnose sämtlicher Erkrankungen noch für deren Heilung. In der Praxis begegnet man zahlreichen unheilbaren oder vermeintlich austherapierten Krankheitszuständen, die allerdings mit Hilfe der chinesischen Medizin erfolgreich behandelt werden könnten.

Naturmed: Dr. Schwarz und Dr. Hammes, wir danken für dieses Gespräch.


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Roya Schwarz | Michael Hammes

Lehrbuch der klassischen chinesischen Medizin und Akupunktur

Die Goldene Nadel

Verlag: Elsevier Verlag

ISBN: 9783437568213

2022, 629 Seiten


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Verlag: Elsevier Verlag
ISBN: 9783437568015
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